Die vergangenen Tage fühlte ich mich müde, etwas abgeschlagen, ich spürte einfach meine Kraft, meine Lebensenergie nicht richtig. Und wenn es mir jeweils so geht, dann weiss ich, dass es Zeit ist, in den Wald zu gehen. So schlüpfte ich in meine Joggingschuhe und rannte los. Der Aufstieg zum Wald hoch war anstrengender wie sonst, da es, obwohl erst 8 Uhr früh, schon recht warm war. Doch sobald der Weg geradeaus führte, fühlte ich mich leichter und freute mich über meinen Entscheid, mir Zeit für mich und meine Körper genommen zu haben. Und mit jeder Minute, in der ich rannte, spürte ich, wie ich mir selber immer näher kam – als ob ich mir in die eigenen Arme laufen würde.
Als ich zu meiner vertrauten Waldlichtung gelangte, verlangsamte ich meinen Schritt und genoss es, ganz langsam dem immer schmaler werdenden Pfad durchs Dickicht zu folgen. Ich verspürte Lust, barfuss zu gehen. Bei der nächsten Wegbiegung hat sich ein vom Sturm gefällter Baum wie ein grosser Torbogen über den Weg gelegt. «Das ist mein heutiges Tor zu mir selber», sagte ich mir und zog nicht nur die Turnschuhe aus, sondern auch gleich noch das T-Shirt und den BH, hängte alles an einen Ast von diesem Tor und musste über mich selber schmunzeln. So ging ich weiter, nun ganz tief atmend und das angenehme Lüftchen auf ihrem nackten Oberkörper geniessend. Ich fühlte mich, als ob ich zum ersten Mal in diesem Wald sei. Und mir war, als ob ich die Bäume liebevoll beobachten würden. Ob der Buntspecht, der da auf dem Baum sass meine nackten Brüste bewunderte? Jedenfalls blieb er einen kurzen Moment auf einem Ast still beobachtend, bevor er dann fortflog. Und ein Fröschlein hüpfte über den Weg und auch dieses machte den Anschein, mich wirklich zu anzuschauen.
Der Weg führte auf die zweite Lichtung und ich freute mich über die kleine Bachdurchquerung die vor mir lag. Da plötzlich, direkt neben mir, überraschte mich ein greller Schrei. Ich zuckte zusammen und sah in die grossen Augen eines Rehkitzes, welches eine Armlänge neben mir stand. Es hat wohl im Dickicht des Katzenschwanzes geschlafen und wurde von mir aufgescheucht. Sachte machte ich einen Schritt zurück. Da Schrie das Kitz nochmals ganz laut und ich hörte wie über mir am Hang etwas raschelte. Wie ich vermutete war die Rehmutter ganz nah. Sie blökte ebenfalls laut und versuchte sich ihrem Kind zu nähern, traute sich aber offenbar nicht. Das Kitz wollte oder konnte aber auch nicht von mir davonrennen. Während dem ich mich langsam rückwärts bewegte, um den Abstand zwischen mir und dem Kitz zu vergrössern, versuchte die Mutter mit ihrem Bellen immer vehementer ihr Bambi zu sich zu locken. Ich merkte, dass ich innerlich hin und hergerissen war zwischen dem Wunsch vertrauen zu mir zu verschaffen und dem Gedanken, dass das Rehkitz ja lernen soll, sich vor Menschen zu fürchten. Ich schnalzte leise mit der Zunge, was das Rehkitz bewegte zu flüchten. Kaum war es bei der Mutter, standen die beiden still und schauten mich an. Mein Herz pochte laut und gleichzeitig spürte ich eine grosse Stille und Verbindung zwischen mir und den beiden Tieren.
Ich erinnerte mich an die Erzählung meiner Schwiegermutter, die kürzlich ebenfalls einem Reh ganz nahe war und begann leise zu singen, so wie sie es damals getan hat. Und genau so wie es bei ihr war, schien dieses Reh ebenfalls auf meine Töne zu reagieren. Die Rehmutter kam ein paar Schritte auf mich zu, ihr Kitz folgte und die beiden schauten mich ganz ruhig an… Mich erfasste eine unendlich grosse tiefe Liebe. Und es war, als ob mein Herz platzen würde.
«Geht weiter ihr beiden», habe ich ihnen singend gewünscht worauf sie gemeinsam im Dickicht verschwanden. Wie ich so dastand, mit nackter Brust auf dieser Waldlichtung und wieder alleine war, musste ich weinen. Erst kamen die Tränen der Rührung über dieses Erlebnis. Woraus ein Schluchzen und Weinen folgte wie ich es nur ganz selten zulassen kann. Ich kniete mich neben dem Bächlein in den Schlamm, grub meine Finger in den kalten nassen Lehm. Eine tiefe Trauer überkam mich, die Trauer über die Trennung zwischen uns Menschen und den Tieren. Dir Trauer darüber, wie wir Menschen die Natur zerstören, wie fremd wir unserer Mutter Erde geworden sind und die Ohnmacht, die ich dabei empfinde, weil ich so wenig gegen diese Zerstörung tun kann. Und gleichzeitig spürte ich die grosse Sehnsucht der ganzen Menschheit nach diesem Zauber des Lebens welchen ich soeben erleben durfte.
Und mit jedem Schluchzen, jeder Träne die ich dem Bächlein übergeben durfte, merkte ich, wie ich leichter und freier wurde. Dabei formten meine Hände aus dem Lehm eine grosse Kugel. Ich bewunderte das tiefe Braun und bestricht damit meine Arme und Beine. Da entdeckte ich vor mir einen grossen geraden Ast, vom Wasser entrindet und geschliffen. Ich griff nach ihm und stand auf. So stand ich mit dem Stab in der rechten Hand und der Lehmkugel in der linken im gurgelnden Bach, nahm die Gegensätze der beiden Gegenstände in meinen Händen wahr. Und über mir der immer dunkler werdende Himmel. Ein Donnergrollen und ein paar Regentropfen weckten mich aus meinem Sein und ganz langsam machte ich mich auf den Heimweg. Tropfnass und überglücklich bin ich Zuhause angekommen und verspürte gleich die Lust, diese Geschichte niederzuschreiben.
Michèle Maruna